Über die Unfreiheit der Kunst

Bundeskongress bildender Künstler in Frankfurt, 4.-6. Juni 1971
Eröffnungsrede von Gernot Bubenik in der Paulskirche

Die Berufsgruppe der freien Künstler, ausgebildet in freien Abteilungen der Kunsthochschulen, angeblich frei von Vorgesetzten, Markt und gesellschaftlicher Bindung, hat vor allem die Freiheit ihre Freiheit zu verkaufen - schlimmstenfalls berufsfremd als Angestellte der Bundespost. Weil viele Künstler mit dieser Freiheit nicht mehr leben und schaffen können, findet dieser Kongress statt.

Zweieinhalb Jahrzehnte Erfahrung in einer Gesellschaft, deren Aufbau unter dem Vorzeichen der freien Marktwirtschaft stand, haben ausgereicht, die Künstler über die Unfreiheiten ihres Berufes aufzuklären. Als sich in den ersten Nachkriegsjahren die Gewerkschaften als Bündnispartner im Kampf auch um die Interessen der freien Berufe anboten, stieß ihr Konzept auf wenig Gegenliebe. Dabei gab es in den bei den deutschen Gewerkschaften DGB und FDGB zunächst Einzelgewerkschaften für Künstler und Publizisten, die in der Konzeption einer IG Kultur gar nicht so unähnlich waren. Der FDGB nannte sich sogar ausdrücklich einen "gewerkschaftlichen Zusammenschluss der Arbeiter, Angestellten und freien Berufe". Die Gewerkschaften gingen von der Auffassung aus, dass in der Konfrontation zwischen den beiden großen Lagern unserer Gesellschaft, Kapital und Arbeit, sich eine unabhängige dritte Position der freien Berufe nicht halten ließe und dass diese Berufe langfristig an die Seite der Arbeitnehmer gehörten, deren Abhängigkeit vom Kapital sie teilen.
Die Künstler haben dieses Angebot in ihrer Mehrheit ausgeschlagen. Die gewerkschaftlichen Verbände bildender Künstler sanken bis zur Bedeutungslosigkeit weniger hundert Mitglieder im gesamten Bundesgebiet zurück, während die Berufsverbände bildender Künstler die Mehrheit der Künstler für ihr Konzept einer selbständigen Mittelstandspolitik gewinnen konnten. Die Unabhängigkeit der freien Berufe wurde von diesen Verbänden begründet mit dem Hinweis auf die angebliche Unabhängigkeit geistiger Arbeit von den ökonomisch definierten großen Lagern unserer Gesellschaft. Volrad Deneke, langjähriges Vorstandsmitglied des Bundesverbands der freien Berufe und mit zahlreichen Veröffentlichungen dessen theoretischer Sprecher, beschreibt die Rolle der freien Berufe aus seiner Sicht so: "Der soziale Friede und der zivilisatorische Fortschritt hängen nicht allein davon ab, ob das Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit ausbalanciert ist. Kapital und Arbeit bleiben sinn- und nutzlose Potenzen, wenn sie nicht von der Intelligenz bewegt und geleitet werden." Für Deneke "stehen die freien Berufe in der Mitte, im Raume optimaler Freiheit von Markt und Auftraggeber, im Raume einer Freiheit zu gleichberechtigter Partnerschaft mit ihren Auftraggebern und den Abnehmern der von ihnen produzierten Idealgüter".

Sprechen wir es auf diesem Kongress, zu dem nichtorganisierte und organisierte Künstler aus den verschiedenen Verbänden aus gemeinsamer Sorge um ihre berufliche Existenz zusammengekommen sind, offen aus: Mit dieser Art illusionärer Mittelstandspolitik sind die künstlerischen freien Berufe gescheitert. Die Künstler sind kein Mittelstand, sondern eine unterprivilegierte Schicht geworden, die noch hinter den Lebensstandard der meisten Arbeitnehmer zurückgefallen ist. Es gibt für uns keine "optimale Freiheit vom Markt", keine "Freiheit zu gleichberechtigter Partnerschaft" mit unseren Auftraggebern in Kunsthandel und Kulturindustrie.
Dieser Frankfurter Kongress kam zustande, weil die Widersprüche zwischen Schein und Sein, zwischen Mittelstandsideologie und lumpenproletarischer Wirklichkeit unseres freien Berufes unerträglich geworden sind. Nicht wenige Kollegen von uns sind daran buchstäblich zugrunde gegangen; es sind bekannte Namen darunter. Die finanzielle Not, die wachsende Abhängigkeit vom Kunstmarkt und die zunehmende Einengung unserer Schaffensfreiheit durch das Diktat der Kulturindustrie wird heute von den meisten Künstlern als Ausdruck dieser existenzbedrohenden Widersprüche erkannt. In und außerhalb der Berufsverbände bildender Künstler ist eine Generation von Kollegen herangewachsen, die in der im Großen negativen Erfolgsbilanz der Verbände die Folge der falschen gesellschaftlichen Orientierung außerhalb der ökonomischen Widersprüche unserer Gesellschaft sehen. Solange die Künstler ihren Standort außerhalb oder über der Gesellschaft suchen, gar als geistiges Zünglein an der Waage der materiellen Gegensätze von Kapital und Arbeit, müssen sie an der eigenen Ökonomie scheitern. Die sich frei von ökonomischer Bestimmung glaubten, wurden zu Sklaven ihrer ökonomischen Lage, mussten zu über neunzig Prozent von berufsfremder Arbeit und Almosen ihrer Verwandtschaft leben.
Die Einsicht in die eigenen Fehler, die trotz größtem subjektivem Einsatz gemacht wurden, muss für die Kollegen in den Berufsverbänden, zu denen ich mich zähle, Anlass sein, denen die Hand zu einer neuen berufspolitischen Orientierung zu reichen, die der Arbeit dieser Verbände bisher skeptisch oder ablehnend gegenüberstanden. Darum sind auch unsere verbandsfreien Kollegen mit uns hier zusammengekommen, um einen neuen berufspolitischen Standort zu finden. Die Gewerkschaftsfrage ist dabei für uns kein Tabu mehr. Die unter dem Gesamtbegriff "Künstler" erscheinende Gruppe hatte bisher die Freiheit einer an der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung kaum beteiligten Randgruppe, innerhalb derer es verschiedene Interessen gibt: - Einmal die der in den Berufsverbänden organisierten Kollegen. Hier sind die Interessen vorwiegend bestimmt durch die soziale Not: Zwischen ein und sechs Prozent der Mitglieder können von ihren künstlerischen Produkten leben. - Da sind zweitens die Interessen der Kunststudenten an den Hochschulen, die neue Wege der künstlerischen Betätigung gehen wollen in Gemeinschaft mit den freien Künstlern, die die Hochschule verlassen. Sie merken bald, dass ihre Produkte keinen Gebrauchswert haben, der außerhalb der Verwertung als Ware im Kunsthandel gefragt wäre. - Als dritte erscheint die Gruppe der mehr oder weniger arrivierten Kunstproduzenten, die - angetrieben durch die Konkurrenz in finanzieller Abhängigkeit vom Kunstmarkt und -handel eine fragwürdige Elite weniger hundert gut verdienender Künstler hervorgebracht hat. Auch sie darf sich der Solidarität im eigenen Interesse nicht entziehen; Künstlerruhm währt oft nur kurz,
Vor allem in der ersten Gruppe der bisher ständisch orientierten Künstler wird, zumal bei den älteren Kollegen, die verheerende Wirkung der Ideologie vom freiberuflichen Mittelstand sichtbar. Verbandsinterne Umfragen zeigen ein Ausmaß der Verelendung, das in solchem Umfang nicht mehr zu verantworten ist. Die Stimmung bei vielen unserer älteren Kollegen ist die: Wir fühlen uns aus dieser Gesellschaft ausgestoßen,
Die Gruppe der Studenten und angehenden freien Künstler ist, soweit sie keine Stipendien erhält, wirtschaftlich nicht besser dran. Sie beginnen sich mit den Kollegen in den Berufsverbänden zu solidarisieren, wobei sie ihre spezifischen Interessen mitbringen, nämlich moderne, gesellschaftsbezogene Kunstarbeit als eine Alternative zur marktgängigen Elitekunst. Sie erwarten eine Gesellschaft, in der die bürgerlichen Bildungs- und Kulturprivilegien weitgehend abgebaut werden können und deren kulturelle Bedürfnisse mit den herkömmlichen künstlerischen Produkten nicht auskommen werden, sondern neue Wege künstlerischer Produktion und Distribution erfordern.
Trotzdem werden diese Kollegen es nicht zulassen, dass ihre Interessen und die der älteren Kollegen auseinander dividiert werden. Wir brauchen beides - eine Berufspolitik, die den Kollegen in ihrer augenblicklichen Lage hilft und zugleich die gesellschaftliche Perspektive künstlerischer Arbeit nicht aus dem Auge verliert; denn in ihr liegt die ökonomische Lage der Künstler von morgen beschlossen. Wir sind in einer Gesellschaft, in der mit Kunst gehandelt wird und in der Künstler vom Kunsthandel abhängig leben und leben müssen. Für diese Künstler brauchen wir gesicherte Rechte, Musterverträge, tarifähnliche Regelungen und Arbeitsbedingungen, die sie vor manipulativen Zugriffen schützen.
Wir Jüngeren, die in der Gesellschaft von morgen zu leben haben, müssen aber weiterdenken, um nicht in dieselbe Lage zu geraten wie unsere älteren Kollegen heute. Wir erwarten, dass sich diese Kollegen ebenfalls nicht aus der Gemeinsamkeit mit uns heraus dividieren lassen, dass sie uns nicht am Weiterdenken und Weiterbauen hindern. Nicht alles, was in die Zukunft weist, ist leere Utopie.
Wir sehen, was sich geändert hat gegenüber der Ideologie vom freien Künstler: Längst sind wir zu schwächeren Partnern des Kunsthandels und Heimarbeitern der Kulturindustrie geworden, denen man die Bedingungen der Zusammenarbeit praktisch diktiert. Wir treten unseren sogenannten Partnern in Handel und Kulturindustrie nicht gleichberechtigt gegenüber, sondern als Abhängige. Die zunehmende Kapitalisierung und Konzentration der künstlerischen Produktionsmittel in den modernen Massenmedien macht immer mehr Künstler zu ihren unmittelbaren Lohnabhängigen; die formell noch freien Mitarbeiter werden mit diesen Produktionsmitteln kombiniert, weil sie ihre Produkte nur noch durch deren Zwischenschaltung verbreiten können. Immer ähnlicher werden sie hierin den Schriftstellern, die nicht zuletzt deshalb bereits ein Jahr vor diesem Kongress dem dritten Weg zwischen den beiden großen Lagern unserer Gesellschaft abgeschworen haben und das Bündnis mit den Gewerkschaften suchen.
Wir wissen uns mit den Weitsichtigsten unter ihnen einig, wenn wir uns fragen: Sollen wir den Prozess weiter fördern, der in den sechzig er Jahren manifest geworden ist, den Prozess, der Kunst systematisch zur Ware gemacht hat und in dem sie nichts gilt als das, was an ihr Profit verspricht? Sollen wir als Kunst nur das gelten lassen, was als Ware verkäuflich ist, oder wollen wir die Kunst auch künftig so sozial sein lassen, wie es ihre Wurzeln waren? Soll der Arbeitsbereich des Künstlers auf die Füllung von Marktlücken reduziert werden, oder soll er ausgedehnt werden auf Leistungen, die außerhalb ihrer Profitierlichkeit notwendig sind als Dienst an der ästhetischen Bildung und Emanzipation der durch Bildungs- und Kulturprivilegien benachteiligten Mehrheit unserer Bevölkerung?

Wir leben - wir sagten es schon - in einer Gesellschaft, in der der Kunsthandel weiter existieren wird. Überlassen wir ihm allein die Zukunft, so wird Kunst künftig nur noch das heißen, was sich vermarkten lässt. Wir müssen daneben verstärkt die sozialen Funktionen von Kunst und Künstler ausbauen, da Kunst aus dem sozialen Prozess geworden ist und wieder in den sozialen Prozess eingehen muss.
Dieser Kongress ist nicht hauptsächlich da, um Forderungen zu stellen. Wir werden auch das nicht vergessen. Aber wir wissen auch, dass wir keine Forderung an die Gesellschaft stellen können, der wir keine Leistung für sie entgegenstellen. Wir Künstler haben der Gesellschaft etwas zu bieten. Ihre Befreiung von Privilegien und ihre allgemeine kulturelle Entfaltung ist zugleich unsere Zukunft als Künstler; das müssen wir erkennen.

Darum wollen wir mit unseren Forderungen nicht einfach die abgestellten Bilder in den Museen und Archiven vermehren, die man uns bisher gegen mehr oder minder große Almosen abgekauft hat. Wir wollen nicht einfach noch mehr Plastiken und Wandbilder an Häusern anbringen. Wir werden auch das tun, aber nicht nur das. Wir wollen Mitglieder dieser Gesellschaft werden, die etwas zu ihrer Befreiung vom kulturellen Defizit der Bevölkerungsmehrheit beitragen. Wir sind bereit, dafür auch etwas von der Scheinfreiheit des Vogelfreien aufzugeben, damit etwas von der Freiheit in unsere Gesellschaft kommen kann, die nicht Freiheit zum Verkauf von Freiheit ist. In der kollektiven Entfaltung des Schöpferischen in einer von Not und Ausbeutung befreiten Gesellschaft werden wir auch unsere verlorene Freiheit wieder finden. So, wie sie einst im stillen Atelier über den Dächern der Häuser und Fabriken schwebte, wird sie nicht wiederkehren.

Gernot Bubenik, 1971